Kasuistik

Kasuistik

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Ka|su|ịs|tik 〈f. 20; unz.〉
1. 〈Stoa, Talmud, Scholastik, Jesuitenlehre〉 Lehre von bestimmten Einzelfällen innerhalb der Morallehre u. dem dafür richtigen Verhalten
2. 〈Rechtsw.〉 Methode, einen Fall als Einzelfall nach den nur für ihn zutreffenden Tatbeständen zu beurteilen u. die allg. Rechtsvorschriften nicht dogmatisch, sondern modifiziert auf ihn anzuwenden
3. 〈fig.〉 Haarspalterei, Wortklauberei
[zu lat. casus (conscientiae) „Gewissensfälle“]

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Ka|su|ịs|tik, die; -:
1. (in der philosophischen Ethik u. in der katholischen Moraltheologie) Teil der Sittenlehre, der für mögliche Fälle des praktischen Lebens anhand eines Systems von Geboten das rechte Verhalten bestimmt.
2. (Rechtsspr.) Versuch u. Methode einer Rechtsfindung, die nicht von allgemeinen, umfassenden, sondern von spezifischen, für möglichst viele Einzelfälle gesetzlich geregelten Tatbeständen ausgeht.
3. (Med.) Beschreibung von Krankheitsfällen.
4. (bildungsspr.) spitzfindige Argumentation; Haarspalterei; Wortverdreherei.

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I
Kasuistik,
 
in der Fachliteratur auch als klinische Vorgehensweise bezeichnete Untersuchungsmethodik, die sich am Einzelfall orientiert.
II
Kasuịstik
 
[zu lateinisch casus »Fall«, »Vorkommnis«] die, -, die Erörterung von Einzelfällen, v. a. im Recht, in der Ethik, der Moraltheologie und der Medizin:
 
In der Ethik Erörterung über eine zu treffende Entscheidung in Fällen, in denen über die Anwendung sittlicher Normen Zweifel bestehen, so besonders bei Konflikten zwischen mehreren Pflichten und Interessen. Voraussetzung für eine Kasuistik ist das Bestehen einer Sittenlehre mit grundsätzlich fest umrissenen Prinzipien oder Normen, die auf konkrete Handlungssituationen angewendet werden sollen. So gibt es etwa Kasuistik im Konfuzianismus und Buddhismus, im Abendland zuerst in der Stoa. Von hier diskutierten Fällen, so dem des rechten Verhaltens zweier Schiffbrüchiger, denen ein nur eine Person tragendes Brett zur Verfügung steht, berichtet Cicero (»De officiis«, III 90). In der modernen Ethik wird die Kasuistik, in Verbindung mit der Kritik an geschlossenen moralischen Systemen, meist abgelehnt, zum Teil aber auch verteidigt (Hans Reiner).
 
 
und christliche Theologie: Charakteristisch ist die Kasuistik für das Judentum, das in seiner rabbinischen Schultradition bei der Auslegung des Gesetzes (Thora) anhand konkreter, in den Disputen der rabbinischen Akademien aber meist konstruierter Fälle sowohl um einen Ausgleich zwischen Thora, Mischna, Gemara und anderen gesetzlichen Traditionen als auch darum bemüht ist, der jüdischen Gemeinde in ihrem jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Umfeld die Gesetzeserfüllung zu ermöglichen beziehungsweise zu erleichtern. - Über judenchristliche Vorstellungen im Neuen Testament fand die Kasuistik Eingang in die christliche Theologie und beeinflusste zunächst durch die stark schematisierten Bußbücher (Sündenkataloge für den Gebrauch der Beichtväter) die rechtlich ausgerichtete Bußpraxis des Mittelalters, verselbstständigte sich dann jedoch - trotz theoretischer Rückbindung an systematischer Theologie und Mystik - in der katholischen Moraltheologie des 17./18. Jahrhunderts (Probabilismus), v. a. unter dem Einfluss der Jesuiten, zu einem System der Feststellung des ethischen Minimums (des eben noch Erlaubten). - Die protestantische Ethik betont aufgrund der reformatorischen Vorstellung von der Überwindung des Gesetzes durch das Evangelium im Gegensatz zu einer kasuistisch orientierten Normenethik die Autonomie und Freiheit der sittlichen Entscheidung des Einzelnen (»Situationsethik«).
 
 
Methode der Rechtsfindung, die nicht durch generalisierende Grundsätze, sondern durch möglichst viele Einzelregelungen alle denkbaren Fälle zu erfassen sucht. In der Gesetzgebung bedeutet Kasuistik eine auf Einzelfälle abstellende Normsetzung, in der Rechtsprechung eine auf bestimmte Rechtsfälle abstellende gerichtliche Entscheidung.

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Ka|su|ịs|tik, die; -: 1. (in der philosophischen Ethik u. in der katholischen Moraltheologie) Teil der Sittenlehre, der für mögliche Fälle des praktischen Lebens anhand eines Systems von Geboten das rechte Verhalten bestimmt. 2. (Rechtsspr.) Versuch u. Methode einer Rechtsfindung, die nicht von allgemeinen, umfassenden, sondern von spezifischen, für möglichst viele Einzelfälle gesetzlich geregelten Tatbeständen ausgeht. 3. (Med.) Beschreibung von Krankheitsfällen. 4. (bildungsspr.) spitzfindige Argumentation; Haarspalterei; Wortverdreherei: Hinter der K. der Briefe stehen Fragen des Prestiges (Adorno, Prismen 212).

Universal-Lexikon. 2012.

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